Mexiko – Schriftlich

Ich möchte diesen Beitrag mit zwei schreiberischen No-Gos beginnen: Das erste Wort sollte niemals „Ich“ lauten und der thematische Einstieg sollte niemals umfassend-unwissend klingen.

Wo soll ich nur anfangen? Mittlerweile ist der Aufenthalt in Mexiko mehrere Wochen her und die detaillierten Erinnerungen beginnen schon zu verblassen. Trotzdem gibt es so viel, was festgehalten werden kann, soll und muss. Denn ich habe viel gesehen und gelernt, mich so intensiv mit dem Gastland beschäftigen können wie selten zuvor und mir mithilfe von historischen Beschreibungen und einem aufmerksamen Blick in die Medienlandschaft, vor allem aber in Gesprächen mit der Bevölkerung ein Bild machen können. Trotzdem bzw. gerade deswegen sind es natürlich subjektive Eindrücke, die im Folgenden zu lesen sind und ich erhebe keinerlei Anspruch auf Allgemeingültigkeit.

Dilemma

Vielleicht ist es hilfreich, mit der eigenen Perspektive auf Mexiko zu beginnen. Was weißt du über Mexiko, was hast du in den letzten Jahren über dieses riesige Land gehört? Drogenkrieg, Drogenhandel, Drogenkartelle, Gewaltopfer; in der hiesigen Berichterstattung über Mexiko fanden sich in den letzten Jahren kaum andere Themen als diese. Erwähnung finden darüber hinaus Aspekte, die das Klischee bedienen. Zum Beispiel ein Artikel aus dem Bereich „Essen und Trinken“ der FAZ vom 24.01.2014, der sich mit Mezcal beschäftigt, einer Schnapsart, die eng mit Tequila verwandt ist, ebenfalls unter Erwähnung der offensichtlich omnipräsenten Drogenkartelle. Mexikaner sind in unseren Landen bekannt als Riesenhüte tragende, Gitarre spielende Pistoleros, die überaus gerne Fiesta machen und im Großen und Ganzen eine eher laxe Arbeitsmoral an den Tag legen. Es ist heiß, überall stehen Kakteen herum und außerdem gab es verschiedene kriegerische Auseinandersetzungen mit Spanien (1810-1821), Frankreich (1838/39 und 1862-67), den USA (vor allem 1846-48) und mit sich selbst (ständig, besonders in der Revolution ab 1910).

Nun hatte ich das Privileg, mit einem echten „Spin Doctor“ zu sprechen, der Sprecher der Regierung Vicente Fox (2000-2006) war und auch heute als politischer Berater tätig ist. Er erklärte mir, dass der Präsident Felipe Calderón (2006-2012) den „schweren Fehler“ begangen hat, bei jedem öffentlichen Auftritt – sei es inlands oder auslands – auf den von ihm ausgerufenen „ innerstaatlichen Krieg“ (Heidelberger Institut für Internationale Konfliktforschung 2010) gegen die Drogenkartelle hinzuweisen. Die militärischen Offensiven und die anhaltende Gewalt der „Narcos“ führten zu mehr als 70.000 Toten seit 2006. Daher wurde Mexiko, gerade im Ausland, einzig und allein über diesen Konflikt wahrgenommen. In Deutschland stellte man sogar die Frage, ob man der Regierung Waffen verkaufen dürfe, befinde sich das Land (partiell) doch im Kriegszustand.

Auch vor unserer Abreise machten wir uns wie selbstverständlich Gedanken darüber, wie sicher es wäre, in Mexiko zu reisen. Wir waren uns einig, dass eine Erkundung des Nordens ausgeschlossen sei. Der Faktor Sicherheit bzw. Unsicherheit war – zugegebenermaßen – recht präsent und nicht umsonst habe ich mich dafür entschieden, die analoge Kamera mitzunehmen, deren Verlust durch Diebstahl nicht so viel wiegen würde wie der der digitalen. Die einzigen Momente der Unsicherheit oder des mulmigen Gefühls in Anbetracht von Waffen wurden dann allerdings durch die Staatsmacht selbst heraufbeschworen: In der Hafenstadt Veracruz, die von Bewohnern und Verwaltung offensichtlich als stark kriminell wahrgenommen wird, gehören omnipräsente polizeiliche und militärische Patrouillen-Fahrzeuge zum Stadtbild. An wirklich jeder Ecke sieht man Pickups, auf deren Ladeflächen Angehörige der staatlichen, bundesstaatlichen und kommunalen Polizei, des Militärs oder der Marine stehen, schwere Maschinengewehre im Anschlag, teilweise mit Sturmmasken und immer stark geschützt durch martialische Einsatzkleidung und schusssichere Westen. Dieser Anblick ist für einen Mitteleuropäer, der das Militär kaum und die Polizei als in Elektrowägelchen Streife fahrende „Freunde und Helfer“ wahrnimmt, stark abschreckend. Immer wieder fahren diese dicken Jeeps an einem vorbei, das Blaulicht ist permanent eingeschaltet und überall sieht man diese waffenstarrenden „Ordnungshüter“. Seltsames Gefühl und paradox zudem. Insgesamt will ich aber betonen, dass ich mich zu keiner Zeit des vierwöchigen Aufenthalts irgendwie „unsicher“ oder bedroht gefühlt habe.

Eine andere Perspektive auf das Land beschrieb schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts Alexander von Humboldt: Mexiko sei wie ein Füllhorn. Die Umrisse des Staates in Betracht ziehend, bezog er jenes Bild wohl auf den Reichtum an Silber und Gold, hinzu kam aber schnell das Öl und überhaupt ist dieses in Teilen sehr fruchtbare Stück Erde tatsächlich in den meisten agrarischen Belangen vermögend. Aber aus solchem Reichtum muss man auch etwas machen und wir waren ein wenig überrascht, wie gut fast alles in Mexiko funktioniert, auch und gerade wenn wir uns im ländlichen Raum, abseits der Hauptrouten, bewegten.

Zu wirtschaftlichen Abläufen kann ich nicht viel sagen, aber infrastrukturell ist das Füllhorn Amerikas auf Augenhöhe mit seinem nördlichen Nachbarn: Auch hier verlaufen alle Stromleitungen überirdisch. Nein, im Ernst, abgesehen davon, dass es in ganz Mexiko nur noch eine Bahnlinie gibt, kommt man hervorragend mit den Überlandbussen voran. Diese sind pünktlich, fahren häufig und sind technisch modern. Die großen Verbindungsstraßen sind gut ausgebaut, auf das ganze Land verteilt sich ein enges Netz an (staatlichen) Tankstellen, man findet überall (wo wir waren) Telefon, Fernsehen, Internet. Außerdem scheint die Versorgungslage mit Lebensmitteln etc. sehr gut zu sein. Auf dem Land sind die Leute dringend auf öffentliche Verkehrsmittel (wozu ich auch Taxis zähle) angewiesen. In der Stadt gilt ähnliches, doch kamen wir zu einer Zeit nach Mexiko-Stadt, in der gerade die Fahrpreise der Metro (U-Bahn) von 3 auf 5 Pesos erhöht worden waren. 5 Pesos sind zwar immernoch keine 30 Cent, aber der Anstieg führte erstens zu Protesten und zweitens zu einer nochmaligen Verdichtung des Auto-Verkehrs. Teilweise gab es einfach kein Vorankommen. Da ist die A40 zur Rush Hour nichts dagegen! In Anbetracht dieser wohl hoffnungslosesten Momente der Reise lernten wir Demut und eigneten uns gleichzeitig einen gewissen Fatalismus an.

Der Fatalismus an sich scheint in Lateinamerika weiter verbreitet zu sein, als in Mitteleuropa. In Mexiko lernt man diesen in einem bestimmten Zusammenhang kennen: Der Beziehung zu den Vereinigten Staaten von Amerika. Seit jeher, besonders aber seit dem Expansionskrieg von 1847, als die US-Amerikaner bis nach Mexiko-Stadt marschierten und die „Stars and Stripes“ am Palacio Nacional gehisst wurden, müssen die Einwohner der Vereinigten Staaten von Mexiko das Gefühl haben, dem nördlichen Nachbarn in einer Position der Schwäche gegenüber zu stehen. Heute ist es kein offener Krieg, der zwischen diesen Ländern ausgefochten wird, doch spielt auch Waffengewalt weiterhin eine große Rolle. Es sind ja hauptsächlich in den USA erworbene Kleinfeuerwaffen und Gewehre, die auf der mexikanischen Seite für Tote und Verletzte sorgen. Darüber hinaus ist Mexiko kein veritabler Produzent von Drogen, sondern eher Transitland für den US-amerikanischen Bedarf. Doch auch im – zumindest juristisch – nicht-kriminellen Bereich ist die Abhängigkeit von der US-amerikanischen Wirtschaft und deren Bedürfnissen eklatant. Jeder, mit dem man über das Verhältnis zu den USA spricht, ist der Meinung, dass die vorherrschende wirtschaftliche Hierarchie eine niemals aufzubrechende ist. „Ellos mandan“ („Sie befehlen [und wir gehorchen]“) ist eine in diesem Zusammenhang oft gehörte Formel.

Hoffnung

Doch die jahrelange Mittelmäßigkeit des mexikanischen Staates scheint sich zum Besseren zu entwickeln. Die neue Regierung Peña Nieto (seit 2012) hat im vergangenen Jahr Beachtliches geleistet. Mit politischer Umsicht, erklärte mir ein etablierter Historiker, wurde Mitte Dezember ein Reformpaket verabschiedet, das umfangreiche Veränderungen in unterschiedlichen politischen Domänen beinhaltet (Bildung, Soziales, Wirtschaft, Energie). Dabei mussten Verhandlungen mit allen Parteien geführt werden und Teile des Pakets wurden mit jeweils anderen Gruppen beschlossen. Die spannendste Kontroverse wurde um die so genannte Reforma Energética geführt, die es privaten Investoren ermöglicht, in die seit 1938 staatliche Ölförderung einzusteigen. Die einen halten dies für den endgültigen Ausverkauf von Mexikos Tafelsilber, die anderen hoffen, dass externe Investitionen eine Modernisierung von Förderanlagen und Raffinerien gewährleisten könne. Einig sind sich aber alle darin, dass endlich Schluss gemacht werden muss mit den verkrusteten und im Übermaß von Korruption betroffenen Strukturen innerhalb des Staats-Konzerns PEMEX, der für den gesamten Öl-Kreislauf verantwortlich ist und dessen Öffnung dazu führen werde, dass der Korruptionsgrad sinke.

Davon abgesehen setzt sich Mexiko grade an die Spitze der lateinamerikanischen Schwellenländer, überholt Brasilien in den Bereichen Investitionsrate und BIP und wird offensichtlich langsam Herr über die Arbeitslosigkeit, was die Emigration in die USA schwächer werden lässt. Noch im Land befindlich, fand ich meine eigenen Eindrücke von einer gewissen Aufbruchstimmung durch einen Artikel in El País bestätigt, der ebenfalls darauf hinweist, dass 2013 erstmals seit Jahren die Gewaltraten gesunken sind. Wie gesagt, hatten auch wir das Gefühl, dass sich etwas tut in Mexiko. Auffallend oft sah man Schilder mit der Aufschrift „Se solicita“ („man stellt ein“), der Grad an Statussymbolen wie Handy, Auto, etc. ist hoch und der nationale Tourismus, auch ein Indikator für Wohlstand, floriert.

Diese Wahrnehmung einer neuen politischen Kultur und eines wirtschaftlichen Booms soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Armut unter der Bevölkerung weiterhin verbreitet ist und die Gesellschaft stark gespalten bleibt in diejenigen, die wenig haben und diejenigen, die unerhört viel haben. Wir lernten Leute kennen, für die Hauspersonal selbstverständlich ist und deren Kinder an privaten Universitäten studieren, wo bis zu 5000 Euro pro Semester zu entrichten sind.

Apropos Universitäten: Die öffentliche Universidad Nacional Autónoma de México, UNAM, deren Campus über einem Teil des Tales von Mexiko-Stadt liegt, ist eine der renommiertesten Hochschulen Lateinamerikas. Sie ist Alma Mater aller mexikanischen Nobelpreisträger, darunter Octavio Paz, weiterhin studierten hier Carlos Fuentes und Juan Rulfo, Carlos Slim und Andres Manuel López Obrador. Bei unserer Rundfahrt über das Gelände (ein Rundgang ist unmöglich) konnten wir kaum ermessen, welche Dimension die Anlage hat, welche Platz für 330.000 Studenten und nochmal knapp 50.000 Lehrende bieten muss. Es sei nicht machbar, so wurde uns gesagt, zwei aufeinander folgende Seminare in zwei unterschiedlichen Fakultäten zu besuchen, wenn man nicht die Universitäts-eigene Buslinie, den Puma-Bus, nimmt. Auf dem Campus liegen das Olympiastadion (1968), zahlreiche Museen, mehrere Theater und drei Kinos. In dieser Stadt des Wissens werden sich auch weiterhin kluge Köpfe zu Genies entwickeln und das Neue Mexiko voran bringen.

Bei der Transformation zu einem modernen Schwellenland ist eine andere Beobachtung erwähnenswert, die wir machen konnten. Seit einigen Jahren entsteht in Mexiko scheinbar ein gesteigertes Bewusstsein für Belange der Diversität, Inklusion und Ökologie. Auch wenn es wohl schon lange vorgeschrieben ist, waren wir verwundert, dass wirklich überall stromsparende Glühbirnen verwendet wurden. Wenn man einmal angefangen hatte, darauf zu achten, fand man diese auch in der spartanischsten Unterkunft. Erstaunt waren wir auch, dass zumindest im öffentlichen Raum behinderten oder eingeschränkten Personen viel Aufmerksamkeit entgegengebracht wird, was sich u. a. in Versuchen ausdrückt, Straßen, Bürgersteige etc. barrierefrei zu gestalten. Immer wieder sahen wir auch Hinweisschilder, auf welcher Straßenseite Rollstühle besser vorankommen oder welchen Aufgang man nehmen könne, um einer Treppe auszuweichen.

Eine weitere Erkenntnis, die ich beim Flanieren und Eintauchen in die fremden Lebens-Welten erhielt, offenbarte sich erst nach längerer Zeit. Viel des vor allem abendlichen Lebens spielt sich, ganz dem gängigen Klischee entsprechend, auf der Straße, bzw. auf Plätzen ab. Tatsächlich wird ab und an ein kleines Gitarrenkonzert zum Besten gegeben, oder, wie in Mérida, der Sonntagabend dazu genutzt, eine der Hauptstraßen zu sperren, an beiden Enden Bühnen aufzubauen und die Menschenmassen dazwischen durch abwechselnde Bands zum Tanz zu bitten (eine erstaunliche Erfahrung). Dieses „Straßen-Leben“ findet in Mexiko – ganz entgegen oben beschriebenen Vorurteilen – (fast) gänzlich ohne den Verzehr von Alkohol statt, da dieser im öffentlichen Raum schlicht verboten ist. Ab einer bestimmten Uhrzeit dürfen selbst „Spätis“ keine Alkoholika mehr verkaufen. Eine solche Reglementierung ist uns zwar fremd und klingt (denkt mal an den Sommer) ungewöhnlich, ist fast eine Veggie-Tag-artige Bevormundung nach Art der Grünen (Achtung: Ironie), sorgt aber dafür, dass die Menschen es ruhiger angehen lassen als in Deutschland und die Stimmung merklich entspannter ist. Sehr angenehm.

Es darf bei all dem Positiven, dass ich nun dargestellt habe, nicht verschwiegen werden, dass Mexiko noch immer unter teilweise struktureller Armut leidet. Ein engagierter Mittdreißiger machte mir an Heilig Abend (inklusive einem Glas Schnaps) deutlich, wie es um die Einkommensverhältnisse bestellt ist. Der „Mindestlohn“ beträgt um die 70 Pesos am Tag, das sind gute vier Euro. Dieses Geld benötigt man fast in Gänze, will man Mais, Eier, Brot und Zucker kaufen. Die Preise auf dem Markt oder im Laden sind aus unseren Augen niedrig bis moderat, bei solchen Löhnen können Familien sich trotzdem nicht viel leisten und nicht umsonst sind weiterhin viele Menschen abhängig von Geldsendungen aus den USA („remesas“), wo Angehörige eine, meist ausbeuterische, Arbeit gefunden haben und die Daheimgebliebenen unterstützen.

Gerade in den ländlichen Gebieten besitzen die Familien allerdings häufig ihren Wohnraum, meist ein einstöckiges Haus, in das man beim Vorbeigehen nicht selten hineinsehen kann und dann ermisst, wie es um die ökonomische Situation der Bewohner bestellt ist (meistens nicht so gut). Sollen die Häuser, die man abseits der renovierten Touristen-Ecken in Seitenstraßen findet, ein Indikator sein, dann muss man zugeben, dass es Leerstand und Verfall durchaus gibt. Doch auch hier zeigt sich, dass einige Menschen zu gutem Geld kommen oder gekommen sind und die Mittel zur Modernisierung oder zum Neubau haben.

Es bietet sich ein gemischtes, vielschichtiges Bild von Mexiko, wie ich es kennengelernt habe. Zu einer historischen und als manifest wahrgenommenen Unterordnung gegenüber den USA, gepaart mit inneren Konflikten und Armut, gesellt sich eine neue Perspektive auf Mexiko, dieses Füllhorn Amerikas, das einen sehr steinigen und mäandernden Weg hinter sich und vielleicht eine hoffnungsvollere Zukunft vor sich hat.  Weitere Eindrücke in Form von Bildmaterial werde ich in den nächsten Tagen zu vermitteln versuchen. Ich freue mich über Feedback, Kritik, Richtigstellungen und Anregungen.

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