Eine recht seltsame Korrelation von politischen Befindlichkeiten konnte der aufmerksame Zuseher/-hörer/-leser in den letzten Tagen und Wochen wahrnehmen, wenn er die Gefühlslagen unterschiedlicher europäischer Nationen in Kontrast stellte. Während besonders in Südeuropa heftig gegen sie demonstriert wird, stärkt der deutsche Wähler seiner Bundeskanzlerin Angela Merkel den Rücken.
Was musste man alles verarbeiten in der letzten Zeit: Die einstmals ach so vitale und starke Europäische Union kann die überall auftretenden Risse im Fundament nicht mehr oder nur noch notdürftig kitten, die soziale und wirtschaftliche Lage eines großen Teils der europäischen Bevölkerung verschlimmert sich und wird mittlerweile existenziell. Die Auswirkungen der Wirtschafts-, Finanz-, Solidaritäts- und Legitimationskrisen in Europa nehmen erschreckende Ausmaße an. In Spanien sind manche Menschen so verzweifelt, dass sie sich beim Besuch des Gerichtsvollziehers selbst das Leben nehmen. Hunderttausende Iberer haben ihr Obdach verloren, in Griechenland grassiert die Armut (s. Rentenkürzungen/-streichungen), die Jugendarbeitslosigkeit steigt in schwindelerregende Höhen. Missstände, wohin man blickt.
Die deutsche Bundeskanzlerin (s. „Europäerin aus Vernunft“ (faz.net)), wurde und wird in den undankbaren Pleitestaaten Griechenland, Spanien, Portugal, Italien, Frankreich, Zypern und sogar Belgien recht drastisch angegangen. Die Völker des friedlichsten Staatenbundes der Welt empören sich über das „Spardiktat“, das in erster Linie mit der Person Angela Merkel in Verbindung gebracht wird. Besonders in Südeuropa wird die Grande Dame de Templin mehr und mehr zur „Hassfigur“ (stern.de) und gerne mal „mit Hakenkreuz – als Karikatur“ (focus.de) abgebildet. Sie sei das „Symbol aller falschen politischen Entscheidungen, die in unserem Land [hier: Portugal, austauschbar] getroffen wurden“ (telepolis).
Wie können Dekaden von Millionen von Menschen derart daneben liegen? Die Deutschen wissen es – wie so oft – auch in diesem Fall einfach besser. Nach der aktuellsten Befragung sind 68% (!!) der Deutschen mit Merkels Arbeit „sehr zufrieden/zufrieden“ (infratest dimap für ARD Deutschlandtrend). Im Vergleich zu Peer Steinbrück sprechen 62% ihr eine „stärkere Führungspersönlichkeit“ zu. Ein Wunsch, der wie eine self-fullfilling prophecy Schritt für Schritt wahrer wurde, ersehnten sich doch schon Ende 2011 59% der befragten Deutschen eine „stärkere Führungsrolle“ der ohnehin schon eisernen Kanzlerin (infratest dimap für Welt am Sonntag).
Wie entsteht eine solche Diskrepanz zwischen den Wahrnehmungen? Eine Erklärung liefert die Theorie um den in den USA als „Rally ’round the flag“ bezeichneten Effekt, welchen sich die deutsche Regierung und die als Vierte Gewalt bezeichnete, wirk-mächtige deutsche Presse zunutze machen. Dabei handelt es sich um „eine auffällige, aber vergleichsweise kurzfristige Zunahme der öffentlichen Unterstützung für den Präsidenten, seine Politik, den Kongress und das Militär. Zu erklären ist der Effekt durch die monothematische, möglicherweise auf Instrumentalisierungsabsichten politischer Akteure zurückgehende regierungsfreundliche Aufbereitung kriegs[- oder krisen]bezogener Ereignisse in der Medienberichterstattung.“ (bpb.de)
Nun liegt im Moment genau ein solches Syndrom in Deutschland vor. Im Angesicht des zusammenbrechenden Hauses Europa, das der Konnotation „Festung“ nur noch durch Frontex Ehre macht, wird das deutsche Volk alarmiert und besorgt gemacht (s. Dobrindt, Döring, Brüderle, Rösler, BILD, Welt, Spiegel, etc. pp.). Es scheint empfänglich für das Ausspielen einer Gesellschaft gegen eine andere, eine von Neid und Missgunst beförderte Argumentationslinie à la „Keine deutschen Steuergelder für die Pleitegriechen“ und Auswüchse wie „Deutschland hat seine Hausaufgaben gemacht“ (s. das Brüderle). [Stimmt, Deutschland hat seine Sozialsysteme schon vor Jahren zurückgefahren, die „Eigenverantwortung gestärkt“, neoliberale Geschwüre zugelassen und den Billiglohn- und Kurzarbeit-Sektor zum einzigen wahren Boomsektor der Bundesrepublik gemacht – da kann man mal sehen, wie visionär die SPD agieren kann, wenn sie will.]
Aber es wird sich – zu Recht – gewehrt: „Die Kritik wirkt so feindselig in Deutschland, dass FDP-Fraktionschef Rainer Brüderle mahnte, Deutschland wisse sehr wohl, dass die Sparmaßnahmen nicht einfach seien und viele Portugiesen betreffe. Aber: „Europa und vor allem Deutschland stehen deswegen Portugal bei diesem Anpassungsprozess fest mit Hilfen zur Seite. Das sollten diejenigen wissen, die den Besuch von Bundeskanzlerin Merkel für unsachliche Kritik nutzen.“ (handelsblatt.com) Die Rhetorik hier ist eindeutig: „Jetzt passt mal ein bisschen auf. Es ist nicht besonders klug, die Hand zu beißen, die Euch füttert.“
Gerade die mediale Orchestrierung der ausländischen Angriffe [einer meiner Favoriten: bild.de mit der Schlagzeile: „Wer sind diese miesen Nazi-Demonstranten?“] auf die mit den besten Absichten agierende Bundesregierung und unsere weise Kanzlerin Angela Merkel führt offensichtlich dazu, dass die deutsche Bevölkerung sich (während des Medienkonsums) sagt: „Nein, also wenn die faulen Südeuropäer sich auf diese Weise aufregen, nachdem wir ihnen ihnen doch schon zigmal den Hintern gerettet haben, da hat meine Geduld und Solidarität aber ein Ende. Dass die jetzt auch noch unsere Angie angreifen, ist doch wohl die Höhe.“ Der Effekt ist, dass die Bundesschäfchen (s. „Wahlvolk“) sich um ihre energische Schäferin (s. Pastorentochter) sammeln und diese gegen Angriffe von außen beschützen.
Was ist da los? Anstatt sich mit den Empörten Europas zu solidarisieren, die fatale Politik der Bundesregierung zu hinterfragen und angesichts des Selbstverständnisses von der notwendig gewordenen Führungsrolle Deutschlands in Europa langsam mal aufzuhorchen und die nationalistischen Tendenzen anzuprangern, stellt sich das Volk vor seine Regierung und rechtfertigt deren Politik der harten Hand. Dass die deutsche Bevölkerung gerne straff geführt wird, ist immer wieder mal zu hören. Zuletzt las man im Zusammenhang mit Obama von einem diffus vorhandenen „Nationalcharakter“ und dem in Deutschland vorhandenen „Führerkult“ (Bloggerin auf freitag.de).
Es ist deutlich zu beobachten, dass die Bewohner der Bundesrepublik sich allzu leicht verschrecken lassen von „der großen Politik“, den mächtigen Medien und den eigenen Befürchtungen und in diesen unsicheren Zeiten eine starke Führung befürworten. Es wird dabei nicht erkannt (oder es soll nicht erkannt werden, oder man will nicht erkennen), dass die Regierung und gerade die Person Angela Merkel ihr Fähnchen allzu gerne nach dem Wind hängt, in fast allen Belangen erst das eine sagt und später doch das andere tut (viel strapaziert und Unwort 2010, aber in seiner Wirkung einfach unschlagbar: s. „alternativlos“) und jeden ihrer Schritte im Nachhinein als Erfolg verkaufen kann/darf.
Es muss die Frage erlaubt sein: Wie blind/blöd/verblendet/desinteressiert/rückwärtsgewandt ist der deutsche Bürger? Wieso lassen sich so viele Menschen derart manipulieren? Wollen die Deutschen nicht sehen, was gerade in Europa passiert, interessiert es sie nicht, oder ist man sich ganz einfach mal wieder selbst der Nächste? Es geht der Bevölkerung wahrscheinlich tatsächlich noch zu gut. Wir sind satt, wir haben doch nun wirklich keine schwerwiegenden Probleme, die Wirtschaft brummt und das ist doch das Wichtigste. Diese Gemengelage macht sich die Regierung zunutze und setzt, legitimiert von den Medien, eine deutsche Interessenpolitik durch, die auf lange Sicht dazu führt, dass Deutschland zumindest innerhalb von Europa nicht mehr angreifbar sein wird und die Europäische Union nach Belieben (vor-)führen kann. [Was macht eigentlich dieser Sozialist, der letztens in den Élysée-Palast eingezogen ist und sich als Gegengewicht zu Angela Merkel verstanden wissen wollte?]
Dass eine Frau, die nicht allein, aber in hohem Maße mitverantwortlich ist für die Notlagen von Millionen von Bürgern der Europäischen Union, einen solchen Zuspruch erfährt, ja sogar aufgefordert wird, doch bitte noch „härter durchzugreifen“ und eine „stärkere Führungsrolle“ zu übernehmen, ist nicht nur beschämend gegenüber den anderen Völkern Europas und der Europäischen Idee, sondern konkreter Anlass zur Besorgnis! Deutschland schwingt sich in diesen Krisenjahren auf zur uneingeschränkten Vorherrschaft über den Kontinent. Andere registrieren dies, aber der deutsche Michel dreht sich in seinem warmen Federbett noch einmal wohlig um und brüllt, wenn er zwischendurch mal geweckt wird (s. Dobrindt, Döring, Gröhe), reflexhaft „Deutschland vor“ und „Keine deutschen Steuern für faule Südvölker“. Es ist zum Heulen.
Nichts läge dem doitschen ferner als sich zu beklagen, dass er im internationalen Geschäft eine zu große Rolle spielte. Das Gras ist immer grüner auf des Nachbarns Rasen. Und wie schön grün das alles bei uns ist [keine versteckte Anspielung auf die zweite konservative Macht im Lande und sg. Ökopartei], herrlich!
Ich verstehe Wut, Empörung und Zorn, finde es allerdings schwierig in meiner Zustimmung die Argumentation der Hirnlosen zu umschiffen und von einer gleichschaltung der Medien, unausgeglichenen – und unausgegorenen – Berichterstattung zu schwafeln. Leider fällt mir da aber erstmal nix anderes ein. Denn: Was wirklich in den Menschen vorgeht, die im Süden Europas auf die Straßen gehen wird hier doch niemanden zu dick aufs Brot geschmiert. Wer wissen will warum der Pleitegrieche so wütend ist, weshalb die Spanier so verzweifelt und aggressiv auftreten muss nun mal sehr genau nach den Antworten suchen. Steht eben alles nicht auf den Startseiten der großen Medienportale.
Oder ich betrachte zu häufig die falschen.
So oder so – ich glaube ein wenig weniger Deutschland ist nie verkehrt.
Beim nächsten mal suche ich auch öfters die Komma-Taste. Hier ist sie: ,.
Lieber Joffe!
Natürlich hast du Recht mit deiner Analyse des aktuellen Unwissenszustands eines unheimlich großen Teils der Bevölkerung. Sicherlich ist die Bevölkerung zwischen Rhein und Oder auch deshalb so unerbittlich, wenn es anderen ans Portemonnaie geht, weil sie selbst diese tiefen Abgründe der Krise (noch) nicht kennengelernt hat. Es ist in diesem Zusammenhang auch keinerlei “Gleichschaltung” gemeint oder festgestellt, nur lesen (oder noch eher: sehen) einfach zu viele Menschen in Deutschland das Falsche, bzw. Mainstreamige, d. h. am einfachsten zu Verstehende. Vereinfachung führt immer zu Pauschalisierung und “der Grieche” hat doch nun wirklich lange genug über seine Verhältnisse gelebt.
Der letzte Satz meines Sermons weist deutlich auf die bei mir vorliegende Desillusion hin. Seit fast dreißig Jahren erwarte ich eine verbesserung des Menschen, doch sie will und will nicht eintreten. Werde ich halt selber tätig (s. Lehramt)!
Vielen Dank in jedem Fall für den Kommentar, anbei noch ein kleines Präsent: ,
Im Übrigen würde ich mich sehr freuen, wenn Ihr nach diesem langen Text noch die Kraft für ein paar kurze Anmerkungen hättet… Please comment!